Arbeitsschutz

Mit der Bradley-Kurve zu mehr Arbeitssicherheit

So messen Sie den Reifegrad Ihrer Unternehmenskultur und senken nachhaltig die Unfallquote

10 Minuten02.05.2022

Von Stefan Bartel

Nur wenige Führungskräfte wissen, dass Arbeitssicherheit direkt mit dem Reifegrad der Unternehmenskultur zusammenhängt. Um diese Kausalität zu verdeutlichen, wurde die Bradley-Kurve entwickelt. Sie zeigt klar: Motivierten Mitarbeitenden, die sich mit ihrem Unternehmen identifizieren, Verantwortung übernehmen und Arbeits- und Gesundheitsschutz als gemeinsamen Wert verstehen, unterlaufen weniger Arbeitsunfälle.

Die grundlegende Theorie hinter der Bradley-Kurve ist, dass die allermeisten Arbeitsunfälle durch menschliches Verhalten verursacht oder zumindest nicht verhindert werden. Das Verhalten von Mitarbeitenden wird wiederum maßgeblich durch folgende Faktoren bestimmt:

  • Die innere Einstellung eines Menschen: Diese Einstellung haben Ihre Mitarbeitenden im Laufe ihrer Sozialisierung erworben und bringen sie ins Unternehmen mit. 
  • Die Qualität von Führung: Das Verhalten der Belegschaft ist stark geprägt durch das, was die Führungsebene anordnet, vorlebt und zulässt. Die Qualität der Arbeit von Führungskräften spiegelt sich also direkt im Unfallgeschehen wider. 
  • Die Unternehmenskultur: Darunter zu verstehen sind die von der Mehrheit als richtig und wünschenswert angesehenen Verhaltensweisen. Das Verhalten der Mitarbeitenden ist immer ein Spiegel der Kultur des Unternehmens.

Wenn Sie also Einfluss auf das Unfallgeschehen nehmen und sicheres Verhalten von Mitarbeitenden fördern wollen, sollten Sie bei den Faktoren Führung und Unternehmenskultur ansetzen. Die innere Einstellung wird dadurch indirekt mitbeeinflusst.

In diesem Artikel erfahren Sie, wie Sie anhand der Bradley-Kurve herausfinden, in welchem Stadium sich Ihre Unternehmenskultur befindet und welche Schritte bei der Weiterentwicklung zu einem sicheren, zukunftsfähigen Unternehmen mit motivierten Mitarbeitenden und sinkender Unfallquote noch vor Ihnen liegen.

Was ist die Bradley-Kurve?

Die Bradley-Kurve macht den Zusammenhang zwischen Unfallgeschehen und Unternehmenskultur sichtbar. Sie dient letztlich der Beurteilung der Sicherheitskultur und zeigt Optimierungsmöglichkeiten des Status quos auf. Entwickelt wurde sie im Jahr 1995 vom DuPont-Mitarbeiter Berlin Bradley. Er fasste seine theoretischen Erkenntnisse in einer Matrix zusammen, die er anschließend wissenschaftlich belegte.

Auf der Bradley-Kurve sind 4 Stufen der Sicherheitskultur abgebildet, auf denen sich ein Unternehmen befinden und weiterentwickeln kann. Auf der erste Stufe befinden sich jene Unternehmen mit großer Unfallhäufigkeit. Dem gegenüber steht die vierte Stufe mit Unternehmen, die nur wenige oder überhaupt keine Unfallereignisse zu beklagen haben. Dazwischen liegen entsprechende Abstufungen. Jede Stufe wird durch eine Verhaltensgrundlage im Arbeitsschutz charakterisiert. Dahinter verbirgt sich die Frage: Was ist die Basis, worauf bauen wir, wenn es darum geht, Unfälle zu vermeiden – auf Instinkte, Regeln und Überwachung, Eigenverantwortung oder Gruppenverantwortung?

Stufe 1: Reaktive Arbeitssicherheit auf Basis von Instinkten

Mitarbeitende übernehmen keine Verantwortung im Arbeitsschutz. Dadurch ist Sicherheit eher eine Frage des Zufalls und Unfälle werden als unvermeidlicher Bestandteil der Arbeit angesehen 

Stufe 2: Abhängige Arbeitssicherheit auf Basis von Regeln und Überwachung 

Für Mitarbeitende bedeutet Arbeitssicherheit, dass sie Regeln befolgen, die ihnen vom Management vorgeschrieben werden. Die Führungsebene geht wiederum davon aus, dass die Unfallquote sinken würde, wenn sich die Belegschaft doch nur an diese Regeln halten würde. Es wird Führung durch Druck praktiziert. 

Stufe 3: Eigenverantwortliche Arbeitssicherheit durch Selbstverständnis der Mitarbeitenden 

Mitarbeitende verstehen Arbeitssicherheit als ihre persönliche Angelegenheit. Sie übernehmen Verantwortung für sich selbst und verstehen den tieferen Sinn von Maßnahmen im Arbeitsschutz. 

Stufe 4: Gegenseitige Verantwortung durch Arbeitssicherheit und Gesundheit als gemeinsamer Wert

Arbeitsschutz ist integraler Bestandteil der Unternehmens-DNA. Mitarbeitende übernehmen Verantwortung für sich selbst und andere. Sie akzeptieren keine geringen Standards und Risiken. Sie gehen unsicherem Verhalten auf den Grund und verstehen, dass Verbesserung sowie eine Null-Unfallquote nur im Team erreicht werden kann.  

Vereinfacht ausgedrückt zeigt die Bradley-Kurve die mögliche Entwicklung der unternehmerischen Sicherheitskultur von einem zu Beginn reaktiven Ansatz bis zum Ziel, dass Arbeitssicherheit nicht mehr nur in der Verantwortung des Managements liegt, sondern die Mitarbeitenden unabhängig voneinander zunächst Verantwortung für sich selbst und dann auch für andere übernehmen.  

Den Reifegrad der Sicherheitskultur bestimmen

Für besseres Verständnis und eine einfachere Einordnung Ihres Unternehmens können Sie sich an folgender Ergänzung der Bradley-Kurve orientieren:

Neben der Verhaltensgrundlage, die in der Bradley-Kurve von DuPont pro Phase definiert wird, spiegelt jede einzelne Stufe der Bradley-Kurve die Einstellungen zu Unfällen wider, die im Unternehmen vorherrschen. Wenn Sie Ihr Unternehmen einordnen wollen, betrachten Sie dafür den Umgang von Geschäftsleitung, Führungskräften und Mitarbeitenden mit der Unfallhäufigkeit im Unternehmen. Werden Unfälle als alltäglich hingenommen und keine Minimierung der Unfallquote angestrebt – ganz nach dem Motto „Unfälle sind normal“ bzw. „Wo gehobelt wird, da fallen Späne“? Dann befindet sich Ihr Unternehmen auf der ersten Stufe und sollte, um die nächste Stufe zu erreichen, auf die Sensibilisierung der Führungskräfte für Ihre Verantwortung im Arbeitsschutz setzen.

Jede Stufe wird ferner durch die Motivation der Mitarbeitenden, sich am Arbeitsschutz zu beteiligen und Unfälle zu vermeiden sowie das Motto des vorherrschenden Führungsstils charakterisiert.

Im Hinblick auf die spezifische Verhaltensgrundlage jeder Stufe, die als ausschlaggebend für Unfallvermeidung und besseren Arbeitsschutz verstanden wird, entsteht jeweils eine bestimmte Art von Aktivitäten und Maßnahmen im Arbeitsschutz, die diese Grundlagen schaffen sollen. Hierdurch entwickelt sich wiederum eine Form von Verantwortung, die von unterschiedlichen Personen oder Gruppen übernommen und wahrgenommen wird, immer abhängig vom Reifegrad der Kultur.

Gehen Sie die Matrix systematisch durch, um die Stufe Ihres Unternehmens klar zu definieren. Schenken Sie dabei der „Stimme des Volkes“ besondere Beachtung und fragen Sie sich, was Ihre Mitarbeitenden zum Thema Arbeitssicherheit denken und wie sie diese leben. Positionieren Sie Ihr Unternehmen anschließend auf der Skala von 1-12.

Mitarbeiterbefragung zur Sicherheitskultur

Nehmen Sie diese Bewertung nicht im Alleingang vor. Zeigen Sie die Bradley-Kurve Ihren Kollegen, Mitarbeitenden oder der Führungsebene, um eine realistische Positionierung zu erreichen. Ist dies nicht möglich, stellen Sie sich zumindest zwei Fragen:

  • Wo glauben Sie, positionieren Ihre Mitarbeitenden sich selbst und ihre direkten Vorgesetzten?
  • Wo glauben Sie, positioniert die Führungsebene sich selbst und ihre Mitarbeitenden?

Das Ergebnis einer beispielhaften Mitarbeiterbefragung ist in der obigen Skizze dargestellt. Es wird deutlich, dass viele Mitarbeitende dieses Beispiel-Unternehmens die Sicherheitskultur, wie sie von der Belegschaft (X-Achse) und dem Management (Y-Achse) gelebt wird auf den unteren Entwicklungsstufen der Bradley-Kurve positionieren.

Gut zu wissen

Für Führungskräfte ist es wichtig zu verstehen, dass alle Stimmen in den roten Feldern rechts der Diagonale besonders kritisch zu bewerten sind. Warum ist dies so? Bei diesen Stimmen sind die Mitarbeitenden aus ihrer Sicht weiterentwickelt als die direkten Vorgesetzten. Führung im Sinne einer Verbesserung der Arbeitssicherheit ist auf dieser Basis sehr schwierig. Führungskräfte müssen zunächst unbedingt klären, was sie tun können, um eine andere Wirkung auf ihr Team zu haben. So angewandt ist die Bradley-Kurve ein hervorragendes Erkenntnisinstrument, um Weiterentwicklung im Unternehmen, vor allem in der Führungsebene, zu erreichen.

Erreichen Sie die nächste Stufe auf der Bradley-Kurve

Nachdem Sie den Status quo der Sicherheitskultur Ihres Unternehmens erkannt haben, ist es in der Regel nicht schwer, weitere Schritte in Richtung Verbesserung einzuleiten. Betrachten Sie die jeweiligen Charakteristika der nächstfolgenden Stufe und überlegen Sie, mit welchen Mitteln Sie diese erreichen können. Veränderungsbereitschaft setzt dabei immer Initiative voraus, die von allen Ebenen ausgehen muss.

Folgende Fragen treiben die Unternehmensentwicklung voran: 

  • Wo positionieren wir uns derzeit auf der Bradley-Kurve und welche Handlungsansätze leiten wir daraus ab? 
  • Wie können wir den Teamgedanken stärken und welche Regeln und Normen tragen zu einer sicheren Unternehmenskultur bei? 
  • Was kann die Geschäftsführung tun, um den Kulturwandel zu befördern? 
  • Wie kann Führung noch besser sichtbar werden und für Veränderung im Unternehmen stehen? 
  • Wo stehen die Mitarbeitenden? 
  • Wie bewerten die Mitarbeitenden das Management? 

Der entscheidende Schritt hin zu einer besseren Sicherheitskultur ist der Übergang von der zweiten in die dritte Stufe. Bis zur zweiten Stufe handeln die Mitarbeitenden, weil sie es müssen, also unter Zwang. Druck ist hierbei das prägende Führungsinstrument. Ab der dritten Kategorie jedoch handeln sie, weil sie es wollen – hier sind Empowerment, Identifikation und Einbeziehung die prägenden Schlagworte des Führungsstils. Ein Sicherheitsbeauftragtensystem zu strukturieren und auszubauen lohnt sich erst ab der dritten Kategorie, ebenso, wie einen Prozess zur Anwesenheitsverbesserung zu etablieren. Wo Druck als Führungsinstrument eingesetzt wird, werden Gespräche mit Vorgesetzten nach Abwesenheit im Betrieb mehrheitlich als Kritik verstanden. 

 

Mit Sicherheitskultur zu unternehmerischem Erfolg

Neben der Auswirkung von Sicherheitskultur auf die Unfallquote konnte DuPont auch nachweisen, dass sich bei steigendem Reifegrad auch Qualität, Produktivität und Gewinne verbessern.  

Bei dieser Variation der Bradley-Kurve wird deutlich: Umso weiter entwickelt Ihre Sicherheitskultur ist 

  • umso zukunfts- und wandlungsfähiger ist Ihr Unternehmen. 
  • umso höher ist der Qualitätsgedanke ausgeprägt. 

Die Bradley-Kurve verdeutlicht, dass ein Unternehmen erst ab der dritten Kategorie  veränderungsfähig und damit zukunftsfähig ist, denn steigende Qualität und Produktivität gehen mit besserer Leistungsperformance der Mitarbeitenden einher. 

Fazit

Wer in Arbeitssicherheit gut ist, ist überall gut! Und dort, wo die Kultur stimmt, stimmen Arbeitssicherheit, Qualität, Produktivität und Mitarbeitermotivation. 

Damit Arbeitssicherheit zur gelebten Unternehmenskultur wird, sollte jede Führungskraft zeigen, dass diese ein persönliches Herzensanliegen ist. Das ist die Voraussetzung für eine grundsätzliche Glaubwürdigkeit, auf der Maßnahmen und Methoden aufbauen können. Dort, wo nur über Methoden gesprochen wird und die innere Einstellung des Managements nicht im Zentrum steht, ist der Prozess zum Scheitern verurteilt. Auch müssen alle Methoden an die bestehende Kultur und die Mitarbeitenden im Unternehmen angepasst werden. Überspringen Sie keine Stufe, sondern arbeiten Sie sich Schritt für Schritt entlang der Bradley-Kurve zum Erfolg. Nicht selten dauert es von der ersten bis zur vierten Kategorie 8-10 Jahre.

Bartel ist renommierter Experte für Führungskommunikation und Safety Culture Coach®. Er bietet nicht nur professionelles Führungskräftetraining in Unternehmen an, sondern bildet in seiner Stefan Bartel Academy auch Safety Culture Manager® aus.

Seit gut 35 Jahren gibt der studierte Maschinenbauer und einstige Entwicklungsingenieur bei Daimler-Benz sein Wissen erfolgreich weiter – als Dozent, Trainer, Redner und Buchautor.

Stefan Bartel
Stefan Bartel

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